Reifeentwicklung trockener Rieslinge – Präludium

von Thorsten Mücke und Rainer Kaltenecker

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Ein Schwerpunkt unseres kleinen Weinblogs ist die Reifeentwicklung des trockenen Rieslings im Zusammenhang mit seiner Machart, Lage, Qualität und des Jahrgangs. Am 1. August versammelten sich in Bonn zwölf Rieslingfreaks, um diesem Thema nachzugehen. Wir verkosteten trockene Rieslinge der Jahrgänge 2001 bis 2006 aus Deutschland, Österreich und dem Elsass, um mehr über den aktuellen Entwicklungsstand der Weine zu erfahren. Dabei sollten von jedem Jahrgang – in jeweils zwei Flights – sechs Weine präsentiert werden. Die Auswahl dafür zu treffen, fiel nicht leicht, denn allein schon bei der Bestimmung des Line-ups kann man natürlich sehr unterschiedliche Zielsetzungen verfolgen.

Naheliegend wäre es sicher gewesen, die besten Weine des jeweiligen Jahrganges auszuwählen. Aber welche Weine sind dies, und zwar bitte zu ihrem jetzigem Reifezustand? Darüber kann man trefflich diskutieren. Oder aber man versammelt eine homogene Auswahl an Weinen eines Jahrgangs. Dies hätte vermutlich den Vorteil, dass man am ehesten belastbare Hinweise über die aktuelle Reifeentwicklung des jeweiligen Jahrganges erhält. Homogen soll hier heißen von vergleichbaren Böden, vergleichbarer Machart und vergleichbarer Qualität. Nachteil ist unter Umständen eine gewisse Eintönigkeit während der Verkostung, da die aromatische Bandbreite eher eng gefasst sein dürfte. Wir entschieden uns schließlich dafür, eine möglichst große Bandbreite für jeden Jahrgang auszuwählen. Hier rücken dann zwar Fragen zum jeweiligen Jahrgangs etwas in den Hintergrund, die Reifeentwicklung in Abhängigkeit der Lage, des Ausbaustils und der Qualität wird aber umso deutlicher. Und zugegebenermaßen war uns dieser Weg auch ganz genehm, zumal die Möglichkeiten unserer Weinkeller (die Weine stammten von Rainer Kaltenecker und Hans Onstein) natürlich begrenzt sind. Entsprechend hatten wir auch keine Konterflaschen, wodurch Flaschenvarianzen in bei der Verkostung natürlich eine Rolle spielten.

Um das Experiment nicht zu beeinträchtigen, führten wir die Verkostung in jedem Flight zuerst blind durch, deckten nach der sensorischen Beschreibung aber dann schnell auf, um welche Weine es sich handelte. So konnte man seine neutralen Eindrücke mit seinen Vorkenntnissen zu Winzern und Weinen gut abgleichen. Ebenso reichten wir beim Aufdecken eine Flightkarten, auf der Informationen zu Jahrgang, Gebiet, Lage und Machart der Weine gegeben wurde. So konnte man auch diese Informationen mit den eigenen sensorischen Eindrücken in Verbindung bringen. Die Flightkarten findet Ihr übrigens auch in den Artikeln. Mit einem Klick darauf öffnen sie sich in ansehnlicher Größe.

Wichtig ist uns der folgenden Hinweis: Erstens sollen und können die folgenden Beschreibungen keinerlei professionellen Anspruch erfüllen. Sie dienen alleine unserer Freude am Riesling. Wenn jemand einen Wein in dieser Verkostung vermisst, darüber so gar nicht unserer Meinung ist oder ihn kürzlich gänzlich anders erfahren hat, dann wären wir an Feedback ausdrücklich interessiert. Wir sind immer gerne bereit, unsere Eindrücke zu hinterfragen, und freuen uns über einen Austausch. Zweitens sind uns die Beschreibung ungleich wichtiger als die Punkte, die wir vergeben. Wo wir erheblich abweichende Eindrücke hatten, weisen wir darauf hin.

Bevor es mit der eigentlichen Probe der Jahrgänge 2001 bis 2006 losging, kam zuerst ein Präludium älterer Weine ins Glas, das anzeigen sollte, wohin die weitere Entwicklung der trockenen Rieslinge gehen könnte. Präsentiert wurden zuerst vier deutsche Weine und ein deutsch anmutender Pirat aus dem letzten Jahrhundert. Allesamt also Rieslinge noch von vor der Erfindung der Großen Gewächse und der ganz großen Ambitionen. Nur wenige Winzer waren damals wahre Spezialisten auf diesem Gebiet. Das ist lange her, und leider wird es immer schwerer, schön gereifte Flaschen zu finden. Wir hatten aber Glück, und so fanden sich grundverschiedene Rieslingstile in ansprechendem Zustand vor uns.

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Los geht es mit einer in jeglicher Hinsicht klaren Ansage. Trockener Riesling hat Stein zu sein, straff, schlank, mineralisch, elegant, das Aroma gehört präzise auf den Punkt gewirkt. Wenige Rieslinge können das so wie der Domaine Trimbach Clos Sainte Hune, den wir hier aus dem Jahr 1988 im Glas hatten. Ohne Zweifel ist dieser Wein schon gereift. Die Nase ist cremig, bietet schöne Reifetöne, duftet erdig-mineralisch, mit etwas Petrol und einer unsüßen, reifen Steinfrucht. Im Antrunk wirkt er etwas karg mit einer immer noch dominanten, aber schon angereiften Säure. Dazu Steinfruchtschale, kalkige Mineralität, Salz, in seinem Stil völlig straight, puristisch, elegant, supersauber, würdevoll gereift und in dieser Form ganz sicher noch langlebig. An Komplexität und seinem typischen hochfeinen Spiel hat er vielleicht schon etwas verloren. Wir sind alle sehr angetan und vergeben recht homogen 92 Punkte.

Der nächste Wein kommt von nicht weit entfernt und doch aus einer anderen Welt. Der Dr. Bürklin-Wolf Forster Kirchenstück G.C. 1996 hat Extrakt, Konzentration, Power und enormen Körper. In der Nase anfänglich noch etwas muffig, entwickelt er sich mit der Zeit intensiv kräuterig, leicht malzig, würzig, Aromen von Brühe und sogar Leberwurst, manche vernehmen Noten von der Botrytis. Im Antrunk ist der Wein nektarhaft dicht, die Säure ist stark, gepuffert von einer deutlichen Restsüße, saftig, reif und doch verspielt, vegetabile Aromen, unheimlich extraktreich. Mit seiner Konzentration, Dichte, Saftigkeit, Nussigkeit präsentiert er Forst, wie es im Buche steht. Ein Wein wie ein Kontrabass-Konzert. Auch schon merklich reif, aber noch richtig gut in Form. TM und GM ist das 94 Punkte wert. Für KA beginnt die Säure langsam die Frucht zu überlagern. Er sieht den Wein am Ende seiner Entwicklung und vergibt 92 Punkte.

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Der nächste Wein ist einer der leisen Töne. Zuerst etwas verhaltener in der Nase, aber feinduftig, gelbe und kandierte Früchte, reife Limetten und Zitronen, ein komplexes Bukett. Im Mund dann eine charmante reife Apfelfrucht, auch exotische Früchte, etwas Maracuja, tabakige Anklänge, sahnige Textur, eine transparente Struktur, man kann in dem Wein quasi bis auf den Grund schauen. Eine tolle Balance mit einer tief integrierten Säure. Seine Herkunft ist fast zu erraten. Solch eine Kombination aus Druck und Feinheit ist typisch für die Löss- und Lehmböden der Hochheimer Hölle, und auch das kleine fette Etwas an Alkohol passt, das er mit seiner Feinheit nicht ganz gepuffert bekommt. Der Künstler Hochheimer Hölle Auslese trocken Goldkapsel 1997 ist so etwas wie eine große Liebe mit einem kleinen Makel. Das ist irrational, aber ein solcher Wein ist eben emotional erfahrbar. Wir vergeben einhellig 93 Punkte.

Der Markus Molitor Zeltinger Sonnenuhr Auslese ** trocken 1998 präsentiert sich unorthodox, aber doch aufregend. Leicht oxidierte Apfelnase, Wachs, florale Noten, alte Cola, leicht speckig, etwas Rauch, deutliche Botrytisnoten von Kartoffeln, dadurch nicht so fein, aber gereift und intensiv. Im Antrunk gelbe Früchte, Schiefer, Mokka, sogar Rum. Die Botrytis sorgt für herbe Noten, der Abgang ist dafür sehr lang, und hat man sich mal daran gewöhnt, ist der Wein dann doch noch schön auf der intensiven reifen Zitronen-Mokkanote. Einige attestieren ihm fehlende Harmonie, viele kritisieren zurecht den hohen Anteil an Botrytisbeeren, darüberhinaus steht die Säure neben dem Extrakt. Trotzdem ist das nicht untypisch für eher einen trockenen, schieferigen Moselstil aus einem warmen Jahr. Was an der Mosel wächst, hat große Eigenständigkeit, auch im trockenen Segment. Den Beweis, dass die Weine richtig gut reifen können, bleibt dieser Wein jedoch schuldig. Wir vergeben 87-88 Punkte.

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Im zweiten Flight werfen wir einen Blick in die Wachau. Und auch hier haben wir Glück. Die Weine tragen förmlich Schilder ihrer Herkunft. Auch wenn sie zuerst viel Luft einatmen müssen, zeigen sie, wie auffällig der hier schon damals kräftige, konzentrierte Stil etabliert war, der in Deutschland erst einige Jahre später ausprobiert wurde. Und doch passt er in diese österreichischen Smaragde meist besser hinein, da sie nicht so sehr von der Feinheit leben, sondern oft eine Schaufel Rauch, Würze, Mineralität, Extrakt mehr mitbringen und weniger über Filigranität, sondern mehr über ein Füllhorn mit einer besonderen Balance Komplexität erzeugen.

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Der erste Österreicher hat sogar historische Bedeutung. Auf der Suche nach einem neuen Prädikat für trockene terroirgeprägte Lagenweine führte die Vinea Wachau im Jahr 1986 die Kategorie „Honifogl“ ein, um diesen Titel aufgrund namensrechtlicher Probleme schon ein Jahr später zu „Smaragd“ ändern zu müssen. Nun gab es mit dem Domäne Wachau Weißenkirchen Achleiten Riesling Honifogl 1986 also nur einen einzigen Wein aus einem einzigen Jahrgang dieser Art, übrigens in der Ausstattung einer Burgunderflasche. Damals war der Wein ein Ereignis, heute ist er eine Rarität. In der Nase ist der Honifogel leicht petrolig, straff, karg, rauchig, mineralisch-würzig, auch etwas helles Karamell, wachsig in der Nase. Im Antrunk ist er trocken und merklich gereift, viel mürbe Apfelschale, Limetten, Reifetöne von Algen, Salzigkeit, die Säure ist schon sehr reif. Mit mehr Luft baut sich der Wein nochmal auf, der Eindruck am Gaumen bleibt aber leicht gezehrt. Nach rund 30 Jahren ist er in Würde gereifter Altwein. TM und GM geben 91 Punkte, KA nur kritische 84 Punkte. Für ihn wirkt der Wein weit über seinem Höhepunkt, er sieht störende deutliche Alterstöne, Aromen von Eisenkraut, Bittertöne im Mund, eine zu schlanke Struktur und einen überdeutlich bleibenden Säureeindruck im Nachhall.

Wenige Jahre jünger, aber ungleich besser in Schuss präsentiert sich der Franz Hirtzberger Spitzer Singerriedel Riesling Smaragd 1993. Die Nase ist duftig, ein Feld feiner grüner Kräuter, dazu etwas Wachs, Honig, auch hier geht es kaum mehr um die Frucht, es mangelt ihm etwas an Tiefe, aber dies kann auch an mit der Eile bei der Verkostung zusammenliegen. Im Antrunk gelbe Früchte, vor allem aber nussig, malzig, ölig, sehr kräftig, ungeheuer konzentriert. Mit mehr Luft fügt sich auch dieser Wein besser zusammen. Dabei ist er irre konzentriert und lebt dabei von seiner tiefen, deutlichen Säureader. Der Wein ist hervorragend gereift. Er bietet am Gaumen große Harmonie und seidige Textur. Was man Hirtzberger wahrlich nicht vorwerfen kann, ist Unbeständigkeit. Der Wein sieht den heutigen schon recht ähnlich. Und liefert einen weiteren Beweis, wie lange diese Weine lagern müssen, um ihre vorhandene Dichte zu harmonisieren. Hier entspricht die Reifeentwicklung und die Lagerdauer schon den Weißen aus dem Burgund. Wahre Langstreckenläufer. Wir vergeben 92 bis 93 Punkte.

Und hier findet Ihr alle Teile aus der Artikelreihe:

→ Teil 1: Letztes Jahrhundert
→ Teil 2: Jahrgang 2003
→ Teil 3: Jahrgang 2001
→ Teil 4: Jahrgang 2004
→ Teil 5: Jahrgang 2002
→ Teil 6: Jahrgang 2005
→ Teil 7: Jahrgang 2006

Weitere Berichte von dieser Probe und auch manch ganz andere Bewertung einiger Weine findet Ihr bei Achim Becker (→ Weinterminator.de), Felix Bodmann (→ Schnutentunker.de) und Matthias Neske (→ Chezmatze.de). Für die Fotos danken wir → Weinkaiser.de.